Infolge der Unterbringung der Franzosen, deren Gesamtzahl gegen Endes des Jahres 1944 auf rund 1600 Personen angestiegen war, hatte sich das Antlitz der Stadt Sigmaringen, deren Bevölkerung kriegsbedingt fast nur noch aus Frauen, Kindern und alten Männern bestand, drastisch verändert. Diesen Wandel hat Maximilian Schaitel in seinem Tagebuch an einer Stelle recht plastisch wiedergegeben. Darin schreibt er: „Das Straßenbild Sigmaringens bietet zu gewissen Stunden des Tages ein fremdes „Bild“: lebhaft gestikulierende Männer mit Baskenmützen…Die Frauen fallen durch ihren meist rötlich…gefärbten Haare auf, noch mehr durch dick verschmierten Gesichter. Anmalen kann man dies nicht mehr nennen, denn manche sehen aus, wie einer Malerpalette“. In einem Brief, den die Fürstin Margarete von Hohenzollern am 10. Oktober 1944 aus der Schutzhaft im Schloss Wilflingen bei Riedlingen an eine Freundin geschrieben hat, heißt es über Sigmaringen: „Dort wird mehr französisch als deutsch gesprochen, der ganze Ort ist eine großen Vichy-Kolonie“. Auch Alphonse Stoffels, über den unten noch zu sprechen sein wird, bekundet in seinen Memoiren, dass in Sigmaringen überall französisch gesprochen wurde.

Während sich die Organisationen der NSDAP gegenüber den Réfugiés nur sehr reserviert, wenn nicht sogar ablehnend verhielten, kam bei der deutschen Bevölkerung generell keine antifranzösische Stimmung auf. Viele Sigmaringer hatten, wie Schaitel an einer Stelle schreibt, Mitleid mit den Franzosen, die ihre Heimat hatten verlassen müssen. Wie unser Gewährsmann weiter berichtet, waren viele deutsche Quartierleute an Weihnachten bemüht, ihren französischen Gästen einen Schimmer vom Fest der Liebe zu vermitteln.

Alphonse Stoffels, der im Büro der Französischen Volkspartei (Partie Populaire Francais, P.P.F.) von Jacques Doriot in der Schwabstraße 4 in Sigmaringen als Dolmetscher tätig war und nach seiner Ankunft Ende September 1944 in Sigmaringen bei Eugen Frank in der Zimmerackerstraße 1 Unterkunft gefunden hatte, betonte in seinen Memoiren die Liebenswürdigkeit der Sigmaringer Bevölkerung. Auch habe er einige Bekanntschaften machen können, wobei, wie er betonte, die Tatsache sehr hilfreich war, dass er die deutsche Sprache beherrschte. Oft habe man ihn zum Kaffee eingeladen. Wie Stoffels weiter berichtet, hatte sich vor allem zu der Familie des Bauunternehmers Anton Deutschmann in der Strohdorfer Straße 9 eine fast freundschaftliche Beziehung entwickelt. Mehrmals in der Woche sei er zu Deutschmanns gegangen und Kaffee getrunken und Kuchen gegessen.

An den Beziehungen von Stoffel zur Familie Deutschmann hatte sich auch nach dessen Umzug am 13. Oktober 1944 ins Hotel Baier in Mengen nichts geändert. Bezüglich des Weihnachtsfests lesen wir in den Memoiren von Stoffels: “Gestern, am Heiligen Abend, hat mich Madame Deutschmann für nachmittags eingeladen zu Tee, Weißrot, Marmelade, zu Apfel-und Birnenkuchen und zum Schluss zum Glühwein wegen der Kälte. Beim Weggehen hat mir ihr Mann ein Paket voll köstlichen Gebäcks mitgegeben, wie vor dem Krieg. Ich bin wahrhaft beschämt über so viel Liebenswürdigkeit vonseiten dieser Menschen, umso mehr als ich ihnen ja nichts zurückgeben kann“.

Vor seiner Flucht aus Sigmaringen übergab Stoffels die von ihm verfassten „Erinnerungen über sein Exil in Deutschland (Mémoires sur mon exil en Allemagne)“ der Obhut der Familie Deutschmann. Er versprach, diese nach dem Krieg wieder abzuholen. Doch dazu ist es nie gekommen. Der Sohn von Anton Deutschmann, Bauingenieur Friedrich Deutschmann (1921 – 2014), der als ehemaliger Angehöriger des Afrikakorps in Nordafrika in französische Kriegsgefangenschaft gekommen war, ließ nach Jahrzehnten die versiegelten Memoiren von Stoffels öffnen, übersetzte diese ins Deutsche und übergab das Original samt Übersetzung schließlich dem Kreisarchiv Sigmaringen zur Verwahrung.

Otto H. Becker