In Sigmaringen entsteht ein deutsch-französischer Erinnerungsparcours
Von Clemens Klünemann (Gymnasiallehrer in Baden-Württemberg und Honorarprofessor am Institut für Kulturmanagement der Hochschule Ludwigsburg)
In Frankreich wie in Deutschland knüpfen Rechtspopulisten gerne an die Begriffe, Symbole und Orte nationaler Geschichte an. Und in beiden Länder ist die nationale Geschichtsschreibung nicht nur durch das gemeinsame Erinnern gekennzeichnet – sondern auch durch das gemeinsame Weglassen schwieriger Kapitel. Diesem Weglassen setzen der Hohenzollerische Geschichtsverein und die Stadt Sigmaringen jetzt einen Themenparcours entgegen, der die Bedeutung der Stadt als Erinnerungsort der deutsch-französischen Geschichte dokumentiert.
Die Nachricht klang zunächst eher banal: Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National, will ihre Partei in Rassemblement National umbenennen. Die Gründung einer Sammlungsbewegung (rassemblement) suggeriert in der Tat überparteiliche politische Ziele im Sinne der ganzen Nation, ähnlich wie das 1947 von Charles de Gaulle gegründete Rassemblement du peuple francais (RPR). Allerdings ist der Begriff des Rassemblement National bereits klar besetzt: Am 2. Februar 1941 gründete der Journalist und ehemalige Abgeordnete der SFIO (Section française de l’Internationale ouvrière, aus der 1969 die Sozialistische Partei hervorging), Marcel Déat, das Rassemblement national populaire. Diese Bewegung hatte zum Ziel, das Kollaborationsregime von Vichy zu stützen.
Anknüpfen an nationale Symbole und historische Ereignisse
Marine Le Pens Vorschlag des Namens Rassemblement National entspringt zweifellos dem bewussten Kalkül, an solche Traditionen anzuknüpfen. Diese waren in der Nachkriegszeit lange tabuisiert, gewinnen jedoch im Zuge einer nationalistischen Renaissance überall in Europa wieder an Zustimmung. Damit befolgt sie eine Strategie, die nicht nur in Frankreich zu beobachten ist: Diese besteht darin, Begriffe und Traditionen zu besetzen, die sich eignen, echte oder vermeintliche Verlierer der Globalisierung zu sammeln. Deren Unzufriedenheit wird scheinbar dadurch legitimiert, dass sie sich historisch immer schon auf der richtigen Seite befunden hätten und ihre Positionen tief in der Geschichte und nationalen Identität verankerten seien. Jüngstes deutsches Beispiel für diese Strategie ist die Usurpation des historischen Hambacher Festes von 1832 durch heutige identitär-nationalistische Gruppierungen am 5. Mai 2018 in Form des ”Neuen Hambacher Festes“, an der Gruppen der Identitären Bewegung genauso teilnahmen wie AfD-Politiker und Pegida-Anhänger.
So einfach das mit einem historischen Ereignis und Symbol des des Nationalgedankens aus dem 19. Jahrhundert gehen mag, weil der für aktuelle identitäre Positionen anschlussfähig ist, so schwierig scheint es zu sein, mit Hilfe des Rassemblement national eines Marcel Déat heute noch – oder wieder – ein Identifikationspotential bieten zu können. Schließlich ist Marcel Déat selbst weitgehend ins Vergessen geraten. Nicht jedoch sein berühmt-berüchtigter Aufsatz von 1939 unter dem Titel Faut-il mourir pour Dantzig ? In dieser rhetorischen Frage zeigt sich die Konzessionsbereitschaft gegenüber der aggressiven deutschen Aggressionspolitik, die den Pazifismus der 1930er Jahre prägte, der dadurch zum wichtigsten Wegbereiter der collaboration werden sollte: Linke Politiker wie Jean Luchaire oder Marcel Déat wurden zu ”Münchnern“ – und dann eben zu Propagandisten der collaboration sowie zu Unterstützern des autoritär-antirepublikanischen Marschalls Pétain. Seit der Münchner Konferenz von 1938 war klar, dass die französische Nachgiebigkeit zur collaboration mit dem übermächtigen Nachbarn führen musste.
Dabei lässt sich die Frage, wer ein Kollaborateur sei, gerade nicht mittels des Rechts-Links-Schemas der politischen Farbenlehre beantworten; vielmehr erklärt die alles übersteigende Furcht vor einem neuen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, dass man auf der Linken
eben alles – auch die Solidarität mit den deutschen Juden in ihrer Lage seit 1933 und damit einen der Grundwerte von Republik und Demokratie – aufzugeben bereit war, um die Nation zu retten. Und der katholisch-royalistischen Rechten um Charles Mauras waren diese demokratisch-republikanischen Werte seit jeher ein Dorn im Auge.
Nationenbildung durch gemeinsames Erinnern – und gemeinsames Vergessen
Der Begriff der Nation erweist sich in der Tat nicht nur als Erklärung für den fließenden Übergang vom Pazifismus der 1930er-Jahre in die collaboration, sondern auch für einige eigenartige Charakteristika der Erinnerungskultur in der Nachkriegszeit. In seiner Rede unter dem Titel Was ist eine Nation? (Qu’est-ce qu’une nation ? ) erklärte Ernest Renan am 11. März 1882 in der Pariser Sorbonne, dass eine Nation sich über eine heroische Vergangenheit („un passé héroïque“) ebenso definiere wie über große Leitfiguren („des grands hommes“ ) – vor allem aber über gemeinsamen Ruhm („de la gloire“ ). Doch genauso wichtig wie der gemeinsame Ruhm sei für die nationale Idee die Fähigkeit, bestimmte Perioden gemeinsam ignorieren zu können – schließlich sei die nationale Einheit Frankreichs erst in dem Moment möglich geworden, als die Franzosen ihrer „Pflicht zu vergessen“ nachgekommen waren. In diesem Licht wird die rätselhafte Äußerung Charles de Gaulles vom August 1944 verständlich: „Vichy fut toujours et demeure nul et non avenu“, erklärte seinerzeit der General – Vichy gehöre einfach nicht zur Geschichte der France éternelle und verdiene somit vergessen zu werden.
In solcher Perspektive von Nationalgeschichte sind Erinnern und Rühmen identisch – Unrühmliches wird somit zwangsläufig zur Gefahr für das ungetrübte Bild der Nation: Jüngstes französisches Beispiel dafür ist die Affäre um das Livre des commémorations nationales, aus dem Kulturministerin Françoise Nyssen nach Protesten verschiedener Menschenrechtsorganisationen wie u. a. SOS Racisme, den Namen des Dreyfus-Gegners und Kollaborationsbefürworters Charles Maurras streichen ließ. Aus Anlass seines 150. Geburtstags am 20. April 2018 zu erinnern komme, so die Argumentation der Protestierenden, einer Rehabilitierung des Dreyfus-Gegners und Kollaborations-Befürworters gleich – wobei unterstellt wird, dass das Gedenken per se identisch sei mit einer Ehrung. So erklärt sich, dass weniger ruhmvolle Seiten französischer Geschichte im offiziellen Gedenken ebensowenig präsent sind wie in der kollektiven Erinnerung Frankreichs.
Offenbar gilt dies auch für das Ende der Vichy-Regierung im süddeutschen Sigmaringen; nur gelegentlich dringt dies ins Bewusstsein der französischen Öffentlichkeit, zuletzt anlässlich einer ARTE-Sendung (Sigmaringen, le dernier refuge) im August 2017, in der im Stil eines Doku-Dramas diese Episode erzählt wurde: Nach der Landung der Alliierten an der französischen Küste im Sommer 1944 hatten die deutschen Besatzer bei ihrem Rückzug nach Osten die französischen Kollaborateure um Philippe Pétain einfach mitgenommen. Ab September 1944 residierte der amtierende französische Staatschef im Hohenzollernschloss über der Donau, und in Sigmaringen, einer Stadt mit damals 5000 Einwohnern, wurden eine italienische, eine japanische und eine deutsche Botschaft eingerichtet. In letzterer durfte sich Hitlers einstmals mächtiger Pariser Botschafter Otto Abetz noch ein paar Wochen den deutsch-französischen Beziehungen im Zeichen von Nationalsozialismus und collaboration widmen. Gleichzeitig ”regierten“ im klassizistischen Prinzenbau Fernand de Brinon und seine Minister – u. a. Marcel Déat für Arbeit und Soziales und Jean Luchaire für Propaganda – über ein Frankreich, das längst durch Amerikaner und Briten befreit war und in dem inzwischen die Anhänger de Gaulles, aber auch die des kommunistischen Widerstands das Sagen hatten.
In Sigmaringen sammelte sich der harte Kern antisemitischer und antidemokratischer Kräfte
Der knapp siebenmonatige Sigmaringen-Aufenthalt der Vichy-Regierung und Tausender französischer Kollaborateure, die aus Angst vor der Rache ihrer Landsleute mit an die Donau gekommen waren, wird in der französischen Erinnerung, wenn er überhaupt zur Kenntnis genommen wird, als grotesker coup de théâtre verharmlost und gilt als unvereinbar mit dem roman national der französischen Geschichte. Dabei hatte sich in Sigmaringen der harte Kern jener antidemokratischen und antisemitischen Kräfte versammelt, die wenige Jahre zuvor die III. Republik in Frankreich zu Fall gebracht hatten. Auf deutscher Seite ist die Wahrnehmung der Sigmaringen-Episode nicht viel anders, was hier wohl daran liegt, dass die deutschen Partner der französischen Kollaborateure, die mit nach Sigmaringen gekommen waren, eine Kontinuität verkörpern, die der jungen Bundesrepublik wenig zur Ehre gereicht: dies gilt für den einflussreichen Literaturkritiker der Nachkriegszeit Friedrich Sieburg ebenso wie für Otto Abetz, der mit seinem Adlatus Karl Epting schon bald nach Kriegsende wieder zur führenden Stimme der deutsch-französischen Beziehungen werden wollte, und schließlich auch für Gerhard Heller, der sich von 1940 bis 1944 als Zensor der deutschen Botschaft in Paris einen zweifelhaften Ruhm erwarb und nach 1945 als Verleger und preisgekrönter Übersetzer tätig war.
Sigmaringen setzt dem Vergessen ein Ende
Nun will die Stadt Sigmaringen dieses Vergessen beenden und plant einen Themenparcours, der die Bedeutung der Stadt als Erinnerungsort der deutsch-französischen Geschichte dokumentiert. Beginnend mit der Absicht Bismarcks, der 1870 versuchte, Fürst Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen als neuen Herrscher auf dem vakanten spanischen Thron zu etablieren, was sich als Auslöser des ersten von drei deutsch-französischen Kriegen innerhalb von 70 Jahren erwies, bis zum Ende des dritten dieser Kriege im Winter 1944/ 1945, als sich der harte Kern der Kollaborateure in diesem Städtchen an der Donau aufhielt. An ca. zehn Stationen wird an die Bedeutung des jeweiligen Gebäudes im Winter 1944/45 erinnert – ob nun am Schloss, wo der greise Marschall Pétain residierte, am Prinzenbau, dem Regierungssitz von Ministerpräsident Fernand de Brinon, am Hotel Löwen, wo der Antisemit Louis-Ferdinand Céline ein- und ausging, oder in der Karlstraße, wo Otto Abetz mit Friedrich Sieburg so taten, als ob sie immer noch im Pariser Palais Beauharnais die Geschicke Deutschlands und Frankreichs mitbestimmten.
An diese groteske Episode der deutsch-französischen Beziehungen zu erinnern bedeutet vor allem, den Sigmaringen-Besuchern ins Bewusstsein zu rücken, dass die antirepublikanischen und antisemitischen Ideen, welche auf französischer und deutscher Seite die collaboration der vierziger Jahre prägten, sehr viel gemeinsam haben mit den Positionen derer, die heute ein demokratisches Europa schmähen und die Nationalität durch Herkunft definieren wollen. Wer sich mit der Sigmaringer Episode des letzten Kriegswinters auseinandersetzt, wird sensibilisiert für die Abgründe, die sich hinter Etiketten und rühmlich klingenden Begriffen wie ” Rassemblement national“, oder ”Patriotismus“ verbergen.
Weiterführende Hinweise
Die Erinnerungsorte des Parcours sind ab Herbst 2018 zugänglich. Die Idee ist eine private Initiative des Autors, von Gabriele Loges und Otto Becker, dem ehemaligen stellvertretenden Leiter des Staatsarchivs Sigmaringen. Das Projekt wird unterstützt vom Hohenzollerischen Geschichtsverein und der Stadt Sigmaringen.
Quelle: Dokumente/Documents: Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog/Revue du dialogue franco-allemand. 1-2/2018. Lohmar: Verlag Dokumente.