Sigmaringen ist heute eine Kreisstadt mit sechs Stadtteilen und insgesamt 18000 Einwohnern im Bundesland Baden-Württemberg. Sie liegt am südlichen Rand der Schwäbischen Alb und der oberen Donau.
Vor allem eine wenig beachtete Episode in der deutsch-französischen Geschichte am Ende des Zweiten Weltkriegs macht sie zu einem ungewöhnlichen Erinnerungsort. Sigmaringen ist somit ein Mikrokosmos wichtiger Ereignisse in der Geschichte Deutschlands und Frankreichs:
Nach den Napoleonischen Kriegen
Im späten 18. Jahrhundert hielt sich Amalie Zephyrine von Hohenzollern-Sigmaringen, geborene Salm-Kyrburg (geb. 1760 in Paris und gestorben 1841 in Sigmaringen) in unmittelbarer Nähe Napoleons I. auf. Sie war die Freundin seiner Frau Josephine. Amalies Bruder Fürst Friedrich von Salm-Kyrburg – ein Freund des Diplomaten Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord – war zusammen mit Josephines geschiedenem Mann Alexandre de Beauharnais am Ende der Französischen Revolution geköpft worden. Es ist vor allem den Beziehungen der Fürstin Amalie Zephyrine zu verdanken, dass nach der Napoleonischen Neuordnung die Souveränität für das Land Hohenzollern zwischen den größeren Territorien „Baden“ und „Württemberg“ erhalten werden konnte.
Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen und der Krieg 1870/1
Der Urenkel von Amalie Zephyrine, Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835-1905), spielte – nach dem Übergang des Fürstentums an Preußen (im Jahre 1849) – in der Affäre um die letztlich nicht realisierte Besetzung des vakanten spanischen Throns, in deren Folge es 1870 zum ersten von drei deutsch-französischen Kriegen innerhalb von 70 Jahren kam – eine wichtige Rolle.
Der Zweite Weltkrieg und die Vichy-Regierung
Von einzigartiger Bedeutung wurde die kleine Stadt mit damals rund 5000 Einwohnern schließlich durch den Aufenthalt der Vichy-Regierung von September 1944 bis April 1945: Nach der Befreiung von Paris am 25. August 1944 war von Außenminister Joachim von Ribbentrop befohlen worden, die Vichy-Regierung nach Sigmaringen zu bringen. Philipp Pétain, der Chef der Kollaborations-Regierung und seine Minister waren im Schloss untergebracht worden und hatten sich teilweise den Regierungsgeschäften verweigert. Ihr Aufenthalt zog zahlreiche französische Zivilisten, die als Kollaborateure Vergeltung fürchteten, an. Die Stadt wuchs um mehr als ein Drittel. Einen Tag bevor die Einheiten von General Jean de Lattre de Tassigny am 22. April 1945 in Sigmaringen einmarschiert waren, hatten sowohl die Vichy-Regierung als auch die französische Geflohen die Stadt verlassen. Sigmaringen wurde französische Besatzungszone.
Eine gemeinsame Geschichte und zwei Sichtweisen
Für beide Länder ist diese Zeit ein „schweres Kapitel“ der gemeinsamen Geschichte. Vielleicht ist sie gerade deshalb außerhalb der Geschichtsschreibung in Deutschland und Frankreich wenig bekannt. Dabei bedeutet der Sigmaringer Aufenthalt der französischen Kollaborateure und ihrer deutschen Partner aus den vorausgegangenen vier Jahren wesentlich mehr: Ist Sigmaringen nicht im besten Sinne – und wie Verdun, Reims, aber auch Aachen und Versailles – ein deutsch-französischer Erinnerungsort? Hier zeigen sich die Vorgeschichte und die Spannungen der deutsch-französischen Beziehung, die der Elysée-Vertrag von 1963 zu lösen versuchte.
Das deutsch-französische Verhältnis in der Mitte Europas
Eine wissenschaftliche Ausarbeitung als zentraler Erinnerungsort der deutsch-französischen Beziehungen im Sinne von Pierre Nora und Etienne François erscheint uns aus diesem Grunde wichtig. Die unterschiedlichen Sichtweisen und Einbindungen in die jeweilige wie eigene Geschichtsbetrachtung ermöglicht knapp 75 Jahre nach dieser „Zuspitzung“ eine Grundlage für eine offene Auseinandersetzung, die der gemeinsamen friedvollen Beziehung und dem europäischen Gedanken verpflichtet ist.
Am Anfang stand ein Projektseminar von Studierenden des Instituts für Kulturmanagement an der Pädagogischen Hochschule unter Leitung von Prof. Dr. Clemens Klünemann; es ging darum, den Besuchern von Sigmaringen die Episode des Winters 1944/1945 als Schlüssel zum Verständnis der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert zu vermitteln und ein entsprechendes Konzept zu entwickeln. Die Zusammenhänge der deutsch-französischen Geschichte, die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert in Sigmaringen verdichteten und in den Aufenthalt der Vichy-Regierung in der Stadt während des Winters 1944/1945 mündeten, werden auf einem Erinnerungsparcours dargestellt, der derzeit in Zusammenarbeit mit der Stadt Sigmaringen und mit Unterstützung des Fürstenhauses Hohenzollern erarbeitet wird. Gleichzeitig ist geplant, deutsche und französische Historiker im Rahmen eines Kolloquiums über das in beiden Ländern unterschiedlich wahrgenommene Phänomen 'Sigmaringen im Winter 1944/1945' ins Gespräch zu bringen.
Federführend wird dieses Projekt gestaltet von Dr. Otto Becker (Historiker und als Archivar des Staatsarchivs seit Jahrzehnten bestens vertraut mit der Thematik), Prof. Dr. Clemens Klünemann (Romanist und Kulturwissenschaftler) sowie Gabriele Loges (Germanistin, Schriftstellerin und Journalistin) und versteht sich als Auseinandersetzung auch mit den dunklen Seiten der Vorgeschichte der deutsch-französischen Freundschaft. Denn ohne das Wissen um die deutsch-französische Begeisterung der zwanziger und dreißiger Jahre für die „faschistische Versuchung“ (Raymond Aron) gerät Sigmaringen tatsächlich in Gefahr, sich als „ferner Spuk“ mit reichlich Interpretationsmöglichkeiten zu etablieren.