Die in den Jahren von 1756 bis 1763 unter Einbeziehung älterer Bauteile errichtete Stadtpfarrkirche St. Johann beim Schloss spielte im Leben der Franzosen in Sigmaringen eine ganz außerordentliche Rolle. Sehr angetan war der Katholik Schaitel von der katholischen Gesinnung der französischen Gäste in Sigmaringen. Unterm 30. November 1944 finden sich die folgenden Zeilen im Tagebuch des Zeitzeugen: „Die hiesigen Réfugiés sind in ihrer Mehrzahl katholisch und bekennen ihren Glauben durch Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes. Marschall Pétain und seine Gemahlin und etliche Herren seiner Umgebung sind jeweils in der Fürstenloge in der 11-Uhr-Messe am Sonntag. Die Mehrzahl der Besucher dieser 11-Uhr-Messe sind Franzosen, Milizen und Zivilisten. Aber auch in den übrigen Gottesdiensten des Sonntags sind Franzosen“.
Unser Gewährmann setzt seine Ausführungen folgendermaßen fort: „An manchen Sonntagen kommen französische Militärgeistliche, sog[enannte] Aumoniers, und halten Gottesdienst mit Predigt. Für die Kinder finden an bestimmten Tagen Katechismusstunden statt. Aus der Beteiligung am äußeren religiösen Leben der hiesigen Kolonie darf geschlossen werden, daß die Anhänger Pétains sich aus konservativen, arbeitsamen und ruhigen Elementen der Bevölkerung zusammensetzen“.
Aus dem Tagebuch von Maximilian Schaitel erfahren wir außerdem, dass sich auch einige Angehörige der italienischen Botschaft, die im Chalet an der Gorheimer Straße 2 untergebracht war, sonntags den Gottesdienst besuchten. Bewundernd weiß Schaitel ferner zu berichten, dass der japanische Botschafter Takanobu Mitani, der im Hotel Zoller-Hof an den Leopoldstraße 42 residierte, mit Frau und Tochter an den sonntäglichen Gottesdiensten inmitten der Gläubigen im Kirchenschiff von St. Johann teilnahm.
Die Erwartungen, welche die Franzosen mit dem Ausbruch der Ardennenoffensive verknüpften, wirkten sich auch positiv auf den Kirchenbesuch aus. Zum 17. Dezember 1944 vermerkte Schaitel in seinem Tagebuch: „Heute Sonntag war ich in der 11-Uhr-Messe. Sie war stark besucht von Franzosen und Milizen. Es zelebrierte ein französischer Abbé mit 4 französischen Ministranten. Diese falten die Hände nicht wie die unseren oder wir, sondern legen die Arme aufeinander…Der Abbé predigte über die Worte aus Schillers Glocke: Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango! Im letzten Drittel seiner mit französischer Lebhaftigkeit vorgetragenen Predigt zog er die Nutzanwendung auf die heutige politische Lage ihrer Heimat und fand bewegte, zu Herzen gehende Worte für seine in der Fremde weilenden Landsleute, die so viele nicht gewohnte Entbehrungen auf sich nehmen müssen…“ Unterm 15. Januar 1945 berichtet Schaitel, dass die Franzosen am Heiligen Abend um Mitternacht in der Stadtpfarrkirche einen Gottesdienst wie in ihrer Heimat gehabt hätten.
Wie wir der Zeitung La France Nr. 59 vom 6./7. Januar 1945 entnehmen können, lud das Comité Artistique et Littéraire zu einem Orgelkonzert am 7. desselben Monats in die Stadtpfarrkirche St. Johann ein. Nach der Anzeige spielte die stellvertretende Organistin Jacqueline Goguet der Kirche von St-Louis- d´Antin in Paris drei Stücke von Johann-Sebastian Bach, zwei Stücke von Girolamo Frescobaldi, und jeweils ein Stück von Louis Claude Daquin, Hans Friedrich Micheelsen und von Abel Decaux. Die Organistin steuerte bei dem Konzert zwei eigene Kompositionen bei.
In der Pfarrkirche St. Johann, die von den Franzosen als Schlosskirche (l´église du Chateau) bezeichnet wurde, fanden darüber hinaus offizielle Messfeiern für die Regierungskommission, einzelne französische Organisationen und auch Totenmessen statt. So lud der Präsident der Regierungskommission de Brinon am 1. Dezember 1944 um 11 Uhr zu einer Gedächtnisfeier der Vereinigung der alten Kämpfer gegen den Bolschewismus („Association des Anciens Combattants contre le Bolchevisme“) anlässlich des dritten Jahrestags der Schlacht von Djuktowo in die Pfarrkirche St. Johann ein. An dieser Feier nahmen die Mitglieder der Regierungskommission und Vertreter der französischen Parteien teil.
Gemäß einer Anzeige in der Zeitung La France Nr. 112 vom 8. März 1945 fand am gleichen Tag das Requiem für die am 4. März im 91. Lebensjahr verstorbenen Mutter des französischen Erziehungsministers Abel Bonnard, Pauline Bonnard, statt. Den Totenschein der alten Dame hatte übrigens ihr Arzt Dr. Louis-Ferdinand Destouches, genannt Céline, ausgestellt. Am 22. März fand in St. Johann um 10.30 Uhr ferner eine Messe zum Andenken an den am 22. Februar 1945 durch Tiefflieger umgekommenen Jacques Doriot, dem Vorsitzenden der Französischen Volkspartei und Chef des Französischen Befreiungskomitee („Comité de la Libération Francaise“), statt.
Auch in den letzten Wochen vor der Ankunft der französischen Kampftruppen, als bereits die meisten Franzosen Sigmaringen fluchtartig verlassen hatten und auch die Wachen vor dem Schloss abgezogen waren, besuchte Marschall Pétain wie gewohnt den sonntäglichen Gottesdienst. So trug Maximilian Schaitel am 15. April 1945 die folgenden Zeilen in sein Tagebuch ein: “Marschall Pétain mit Gemahlin wohnten dem Gottesdienst bei. Die beiden französischen Geistlichen scheinen auch weg zu sein, die Messe wurde von einem deutschen Priester zelebriert“.
Otto H. Becker