Erinnerungsort-Sigmaringen
Sigmaringen als deutsch-französischer Erinnerungsort
Seit dem späten 18. Jahrhundert bestanden besondere Beziehungen zwischen Sigmaringen und dem Nachbarland Frankreich.
Dabei ist der von September 1944 bis April 1945 dauernde Aufenthalt der Kollaborationsregierung von Vichy in Sigmaringen in der damals rund 5000 Einwohner zählenden Stadt, die im letzten Kriegshalbjahr rund 1600 Bewohner mehr aufnehmen musste, ein eher schweres Kapitel der gemeinsamen Geschichte beider Länder. Ohne eine Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der Vorgeschichte der deutsch-französischen Freundschaft und ohne das Wissen um die deutsch-französische Begeisterung der zwanziger und dreißiger Jahre für die „faschistische Versuchung“ (Raymond Aron) gerät die Geschichte von Sigmaringen indes in Gefahr, sich als „ferner Spuk“ mit reichlich Interpretationsmöglichkeiten zu etablieren.
Das Projekt „Erinnerungsort Sigmaringen“ – im Sinne eines „lieu de mémoire“, wie ihn Pierre Nora charakterisiert hat – möchte zum Verständnis der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert beitragen: Im Rahmen eines Erinnerungsparcours werden die Zusammenhänge der deutsch-französischen Geschichte, die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert in Sigmaringen verdichteten und in den Aufenthalt der Vichy-Regierung in der Stadt während des Winters 1944/1945 unvorhersehbar – und davon unabhängig – mündeten, verortet und sichtbar gemacht. Federführend wird dieses Projekt gestaltet von Dr. Otto Becker (Historiker und als Archivar des Staatsarchivs seit Jahrzehnten bestens vertraut mit der Thematik), Prof. Dr. Clemens Klünemann (Romanist und Kulturwissenschaftler) und Gabriele Loges (Germanistin, Schriftstellerin und Journalistin). Mit dem Hohenzollerischen Geschichtsverein e.V. zusammen konnte der „Erinnerungsort Sigmaringen“ realisiert werden.
Von der Französischen Revolution bis nach den Napoleonischen Kriegen
Im Jahre 1781 heiratete der in Paris lebende Reichsfürst Friedrich III. von Salm-Kyrburg in Straßburg Johanna von Hohenzollern-Sigmaringen. Ein Jahr später heiratete seine Schwester Amalie Zephyrine von Hohenzollern-Sigmaringen (geb. 1760 in Paris, gest. 1841 in Sigmaringen) in Kirn an der Nahe deren Bruder, den Erbprinzen Anton Aloys von Hohenzollern-Sigmaringen (1762–1831). Nach der Geburt ihres Sohnes Karl floh Amalie Zephyrine von Hohenzollern-Sigmaringen 1785 aus der Enge der Provinz in Sigmaringen zu ihrem Bruder nach Paris. Aufgeschlossen für die neuen Ideen der Zeit führten sie im Hôtel de Salm einen Salon, in dem auch Thomas Jefferson verkehrte. Fürst Friedrich von Salm-Kyrburg wurde zusammen mit Alexandre de Beauharnais geköpft. Amalie war die Freundin seiner Witwe, der späteren Josephine Bonaparte. Nach den Napoleonischen Kriegen nahm Amalie wieder Kontakt zu ihrem Mann Fürst Anton Aloys auf. Gemeinsam konnten sie bei Napoleon die beiden hohenzollerischen Kleinstaaten Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen vor der Mediatisierung retten. Diese erhielten mit dem Beitritt zum Rheinbund 1806 die volle Souveränität.
Ihr Sohn Karl (1785–1853) heiratete 1802 die von Napoleon geadelte Nichte seines Reitergenerals Joachim Murat, Antoinette Murat, in Paris. 1808 kehrte er mit seiner jungen Frau und seiner Mutter Amalie von Hohenzollern-Sigmaringen nach Sigmaringen zurück.
Der Enkel Fürst Karl Anton (1811–1885) und Konstantin von Hohenzollern-Hechingen traten als Folge der Revolution von 1848/49 ihre Länder 1849 an den stammverwandten König von Preußen ab.
Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen und der Krieg 1870/71
Der Urenkel von Amalie, Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835–1905), spielte mit seiner spanischen Thronkandidatur, in deren Folge es 1870 zum ersten von drei deutsch-französischen Kriegen innerhalb von 70 Jahren kam, eine wichtige Rolle: Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck drängte ihn, sich als Anwärter für den spanischen Thron zur Verfügung zu stellen. Leopold trat jedoch schon bald wieder von seiner Kandidatur zurück, weil Napoleon III. mit einem Krieg drohte. Bismarck bewirkte mit der Veröffentlichung der kompromisslosen Haltung Napoleons in der ‚Emser Depesche‘ vom 13. Juli 1870 in der deutschen Öffentlichkeit die Entschlossenheit, keinesfalls zuzulassen, sich den Absichten von Napoleon III. zu unterwerfen. Genau darauf hatte der preußische Ministerpräsident spekuliert. Der letzte der drei sogenannten Einigungskriege wurde geführt. Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich Deutschland den Krieg.
Der Zweite Weltkrieg, die Vichy-Regierung und die Zeit der Französischen Besatzung
Ungewöhnliche Bedeutung erhielt die Kleinstadt mit damals rund 5000 Einwohnern, die als ehemalige Residenzstadt über die angemessenen Gebäude und Räumlichkeiten verfügte, durch den Aufenthalt der Vichy-Regierung von September 1944 bis April 1945: Nach der Befreiung von Paris am 25. August 1944 war von Außenminister Joachim von Ribbentrop befohlen worden, die Kollaborationsregierung von Vichy nach Sigmaringen zu bringen. Die fürstliche Familie musste das Schloss verlassen. Philippe Pétain und seine Minister wurden im Schloss einquartiert und gut verpflegt. Ein Teil der Regierungsmitglieder, unter ihnen Pétain, verweigerte die Regierungsgeschäfte, der andere Teil arbeitete weiter mit den Nationalsozialisten zusammen. Ihr Aufenthaltsort zog zahlreiche französische Zivilisten an, die als Kollaborateure Vergeltung fürchteten. Die Stadt wuchs um mehr als ein Drittel. Einen Tag bevor die Einheiten von General Jean de Lattre de Tassigny am 22. April 1945 in Sigmaringen einmarschierten, hatten sowohl die Vichy-Regierung als auch die aus Frankreich Geflohenen die Stadt verlassen. Sigmaringen wurde Teil der französischen Besatzungszone. Nach einer ersten schwierigen Zeit für die Bevölkerung ermöglichte eine Förderung von Kunst und Kultur nach zwölf Jahren Diktatur die erneuten Anfänge einer deutsch-französischen Verständigung. 1952 wurde das Bundesland Baden-Württemberg gegründet.
Für beide Länder ist diese letzte Zeit eine schwere Hypothek ihrer gemeinsamen Geschichte. Vielleicht ist sie gerade deshalb außerhalb der Geschichtsschreibung in Deutschland und Frankreich wenig bekannt. Dabei ist Sigmaringen – wie Verdun, Reims, aber auch Aachen und Versailles – ein deutsch-französischer Erinnerungsort im Sinne von Pierre Nora und Etienne François. Hier zeigen sich die Vorgeschichte und die Spannungen der deutsch-französischen Beziehungen, die der Élysée-Vertrag von 1963 zu lösen versuchte. Die unterschiedlichen Sichtweisen und Einbindungen in die jeweilige Geschichtsbetrachtung ermöglicht 75 Jahre nach dieser ‚Zuspitzung‘ eine Grundlage für eine offene Diskussion, die der gemeinsamen friedvollen Zukunft und dem europäischen Gedanken verpflichtet ist.