Die elegante Jugendstilvilla Güntert, Fürst-Wilhelm-Straße 2, unweit der Nepomukbrücke an der Donau gelegen, ist untrennbar mit dem Aufenthalt des Arztes und Schriftstellers Dr. Louis-Ferdinand Destouches (1894 – 1961), genannt Céline, verbunden. Dieser war im Spätjahr 1944, nachdem er als erklärter Antisemit und Kollaborateur von der Résistance Morddrohungen erhalten hatte, nach Deutschland geflüchtet und kam über Baden-Baden, Berlin und Schloss Kränzlin bei Neuruppin Anfang November 1944 schließlich nach Sigmaringen, wohl in der Hoffnung, sich von dort in die nahe Schweiz absetzen zu können. Der damals bereits bekannte Schriftsteller fand zusammen mit seiner Frau, der Tänzerin Lucette Almanzor, und seinem Kater Bébert im Hotel Löwen in der Karlstraße 4 Unterkunft.
Die Nutzung des Hauses Güntert durch die Ärzte Dres. Louis-Ferdinand Destouches und André Jacquot wurde in einem Vertrag vom 1. Dezember 1944 gemäß Beschlagnahmeverfügung des Regierungspräsidenten von Sigmaringen vom 28. November 1944 zwischen dem französischen Regierungsausschuss, Sigmaringen Karlstr. 1-3, und Frau Hanne Güntert, Fürst-Wilhelm-Straße 2, als Vertreterin ihres zur Wehrmacht einberufenen Mannes, Dr. Dr. Gerhart Güntert, festgelegt. Danach umfasste das Objekt einen Praxisraum sowie einen Waschraum. Als Miete für die Räume und die ärztlichen Ausrüstungsgegenstände hatte der französische Regierungsausschuss monatlich im Voraus 200 RM an Frau Güntert zu entrichten. Während der Sprechstunden, täglich zwei Stunden, hatte Frau Güntert die Aufgabe als Sprechstundenhilfe wahrzunehmen. Eine besondere Vergütung war hierfür nicht zu zahlen. Den Vertrag unterzeichneten Frau Güntert und Staatssekretär Marcel Déat mit eigenhändigen Unterschriften. – Es folgt ein handschriftlicher Zusatz vom 29. Januar 1945 in französischer Sprache, wonach für die Nutzung der Räume durch einen dritten Arzt, nämlich Dr. Vergne, der monatlich zu entrichtende Mietzins ab 1. Februar 1945 auf 250 RM erhöht wurde.
Bei den täglichen Öffnungszeiten von zwei Stunden für zwei, dann aber für insgesamt drei Ärzte konnte es mit der ärztlichen Tätigkeit in der Villa Güntert von Céline nicht weit her gewesen sein. Nach eigenem Bekunden war Céline jedoch vornehmlich bei den im Fidelishaus (Fidelisstraße 1) und in der Landwirtschaftsschule (Strohdorfer Straße 9/1) untergebrachten Réfugiés sowie bei den im Barackenlager des männlichen Arbeitsdienstes an der Straße nach Jungnau einquartierten Milizsoldaten ärztlich tätig.
Seine liebste Patientin war jedoch die damals fast 90-jährige Mutter des französischen Erziehungsministers Abel Bonnard, Pauline Bonnard, die in der Dienstwohnung von Landrat Dr. Robert Seifert im Landratsamt (Karlstraße 15) untergekommen war. Die Dame faszinierte ihn nicht nur wegen ihrer Persönlichkeit, sondern vor allem auch wegen ihres exzellenten Gedächtnisses. Sie soll den ganzen Légouvé, Musset und Marivaux auswendig gekonnt haben. In der Küche von Landrat Dr. Seifert bekam Céline außerdem Abfälle für seinen Kater Bébert. Seiner am 4. März 1945 verstorbenen Lieblingspatientin hatte Céline den Totenschein ausgestellt.
Céline verließ mit seiner Frau am 22. März Sigmaringen und kam am 27. März 1945 in Kopenhagen an. Ein Raum, der von Céline und seinen Kollegen im Haus Güntert genutzt worden war, diente danach etwa 14 Tage lang Dr. Knapp von der Deutschen Botschaft Paris in Sigmaringen als Büro. Der Diplomat lagerte in dem Raum auch Akten, wovon ein Teil vor seiner Abreise aus Sigmaringen von der Spedition Lauterwasser abtransportiert bzw. an Bäckermeister Dinser abgegeben wurde. Einen Schließkorb mit Akten wollte Dr. Knapp zu einem späteren Zeitpunkt abholen. Das „restliche Altpapier“ sollte Dentist Güntert, der Schwiegervater von Frau Hanne Güntert, in seinem Heizkessel verbrennen. In Abwesenheit ihres Schwiegervaters übergab Frau Güntert im Mai 1945 den Schließkorb, den Dr. Knapp später abholen wollte, mit 10 Leitz-Ordnern, die Akten betr. jüdische Ärzte in Paris sowie eine dazugehörige Suchkartei enthielten, in Gegenwart von zwei Beauftragten des amerikanisch diplomatischen Dienstes dem stellvertretenden Bürgermeister von Sigmaringen. Nach seiner Rückkehr schaute der Dentist Güntert die im Heizkeller noch gelagerten Papiere durch und übergab anschließend die Schriftstücke, die ihm wichtig erschienen, dem Sigmaringer Bürgermeister.
Was aus den ausgefolgten und den von der Spedition Lauterwasser abtransportierten Akten geworden ist, konnte nicht ermittelt werden. Jedenfalls ist ein Teil der Unterlagen, die Dr. Knapp bei sich hatte, im Backofen von Bäckermeister Dinser in der Vorstadt bzw. im Heizkessel des Hauses Güntert entsorgt worden.
Otto H. Becker