Der Bahnhof, Bahnhofstraße, und die Allee. Mit der Inbetriebnahme des letzten Teilstücks Scheer–Sigmaringen der Donautaleisenbahn Ulm–Sigmaringen hatte Sigmaringen den Anschluss an das württembergische Schienennetz gefunden. 1878 folgte der Anschluss an die Linie nach Tübingen über Hechingen. 1890 kam es zum Ausbau der Eisenbahnlinie Sigmaringen–Tuttlingen. Bereits 1873 hatte die badische Eisenbahnverwaltung die Verbindung Sigmaringen–Meßkirch hergestellt. Sigmaringen war zu einem Eisenbahnknotenpunkt geworden. Der württembergische Bahnhof, der heutige Hauptbahnhof, war an die Strecken nach Ulm, Tuttlingen und Tübingen angeschlossen. Der badische Bahnhof verband Sigmaringen mit Meßkirch.
Beim Bau des württembergischen Bahnhofs 1872/73, um den es nachfolgend allein gehen soll, hatte sich die württembergische Eisenbahnverwaltung große Mühe gegeben. Das Gebäude weist an der Front eine Länge von 88 Metern auf. Es besteht aus einem einstöckigen Mittelrisalit und zwei zweistöckigen Eckrisaliten, die durch arkadenartige Zwischentrakte miteinander verbunden sind. Das repräsentative Bauwerk war geeignet, die hohen Herrschaften, die bei Hofe ein- und ausgingen, würdig zu empfangen und wieder zu verabschieden. 1944/45 hingegen wurde der Sigmaringer Hauptbahnhof zum Ziel vieler Menschen, vornehmlich von Franzosen, die infolge des Krieges und der damit verbunden politischen Entwicklungen, in Sigmaringen Schutz suchten.
Am 4. November 1944 berichtete der Landrat von Sigmaringen dem Sigmaringer Regierungspräsidenten: „In der Kreisstadt Sigmaringen sind bis jetzt 446 französische Flüchtlinge, einschließlich der französischen Regierung mit eigenen Fahrzeugen eingetroffen, wovon 80 im Schloß Sigmaringen und die anderen in Privatquartieren [etc.etc.] untergebracht sind. Außerdem sind 257 Miliz gleichfalls mit eigenen Fahrzeugen in der Kreisstadt angekommen. Hinzu kommen noch etwa 200 französische Flüchtlinge, die einzeln oder in Gruppen mit der Bahn eingetroffen sind. Es ist jedoch mit einem weiteren Zugang von französischen Flüchtlingen in nächsten Zeit zu rechnen“.
Die Prognose des Sigmaringer Landrats war zutreffend. Bis zum Jahreswechsel 1944/45 war die Zahl der Franzosen in Sigmaringen auf fast 1600 Personen angestiegen. Da die Flüchtlinge kaum noch über eigene Fahrzeuge verfügten, rückte der Bahnhof in den Mittelpunkt der Aufnahme der französischen Flüchtlinge und der Durchreisenden. Wie wir den Einträgen im Tagebuch von Maximilian Schaitel zum 30. März 1945 entnehmen können, waren seit dem Durchbruch der Russen zur Oder und nach Pommern viele französische Flüchtlinge aus diesen Gegenden nach Sigmaringen geströmt. Die Wartesäle seien deshalb wieder gefüllt. Der Zeitzeuge fährt fort: „Die Menschen liegen auf dem Boden und Bänken und Tischen“. Die Situation wurde vor allem aber durch die Tatsache verschlimmert, dass seit dem Winter die Räume des Bahnhofs Tag und Nacht von Menschen, zumeist Franzosen, Männern, Frauen und Kindern, belagert waren, aber die Aborte im Bahnhof geschlossen bzw. nur vom Bahnhofpersonal benutzbar waren. Den bedauernswerten Menschen blieb nichts anderes übrig, als ihre Notdurft in der dem Bahnhof gegenüber liegenden Allee vor dem Prinzengarten zu verrichten.
Den Zustand der Allee beschreibt Schaitel in seinem Tagebuch zum 15. April 1945 denn auch folgendermaßen: „Alles dicht besät mit Papier, aber kein Stullenpapier, sondern Packpapier, Zeitungsfetzen und als Klosettpapier benütztes Papier aller Sorten und Güten. Die Allee ist kaum mehr passierbar, sie ist mit Menschenkot gepflastert, wie ein Halteplatz von einem Regiment, das Durchfall hat. Ein Einschreiten der Fürstlich Hohenzollernschen Verwaltung, der Polizei oder Stadtverwaltung ist unmöglich, die Verhältnisse lassen eine Besserung nicht zu.“
Mit Vertrag vom 8. Februar 1941 gestattete Fürst Friedrich von Hohenzollern dem Reichsfiskus Heer auf dem ihm eigentümlichen Gelände an der Allee gegenüber dem Bahnhof eine Holzbaracke mit den Ausmaßen von 52, 75 m auf 11, 70 m zu errichten. Sie erstreckte sich von dem Weg, der von der Allee in Richtung des Eingangs des Gebäudes Bahnhofstraße 5, des früheren Postamts, weist, bis hin zum Taxistandort auf der Höhe der rechten Kante des linken Eckrisalits des Bahnhofs. Am 3. Februar 1942 gestattete die Fürstliche Bauverwaltung der Wehrmacht darüber hinaus die Erstellung einer 2 -3 Kubikmeter großen Abortgrube an der Rückseite der Baracke. Auf den Baumbestand der Allee musste freilich Rücksicht genommen werden. Der Reichsfiskus Heer verpflichtete sich in dem Vertrag, die Baracke nach der Beendigung des Krieges wieder abzubrechen und den Platz auf seine Kosten in seinen früheren Zustand zu versetzen.
Die Baracke wurde zu Unterkunftszwecken für durchreisende Wehrmachtsangehörige errichtet, vornehmlich für solche, die sich auf dem Weg vom Bahnhof Sigmaringen zum Truppenübungsplatz Heuberg bei Stetten am kalten Markt oder zurück befanden.
Bei dem Mangel an Unterkünften für französische Flüchtlinge in der Stadt konnte schließlich auch die Wehrmachtsbaracke nicht mehr nur allein für Angehörige der Wehrmacht reserviert bleiben. Am 15. Januar 1945 notierte Maximilian Schaitel in sein Tagebuch die folgenden Zeilen: „Der Wartesaal am Bahnhof, die Wehrmachtsbaracke vor dem Bahnhof und weitere Säle oder Räume sind immer noch mit französischen Zivilisten gefüllt, die keine Quartiere bisher erhalten konnten“.
Nach dem Kriegsende wurde die Wehrmachtsbaracke auch weiterhin für Unterkunftszwecke genutzt, damals freilich nicht mehr für französische Flüchtlinge, sondern für Fremdarbeiter und deutsche Flüchtlinge. Am 26. Oktober 1947 ist das Gebäude aus Holz dann aber völlig abgebrannt. Das Feuer war vermutlich bei der Kochgelegenheit des Gebäudes entstanden. Die Überreste wurden abgetragen und der Platz in seinen früheren Zustand versetzt.
Otto H. Becker